Von Ostanatolien in den Bundestag

Wanderer zwischen den Welten: Der Linkspartei-Abgeordnete Hakki Keskin. Von Mariam Lau, Die Welt

Berlin – An eine Szene aus seiner ostanatolischen Heimat kann sich der Abgeordnete Hakki Keskin (Die Linke) noch heute erinnern: Ein kurdischer Großgrundbesitzer, der auch Abgeordneter in der Nationalversammlung war, kam in Keskins Heimatdorf zu Besuch. Die Pächter seiner Höfe scharrten sich um ihn und küssten ihm Hände oder Füße. Diese Art von Unterwerfungsritual ist Keskin als Kind gegen den Strich gegangen; spätestens als Abiturient in der nächstgelegenen Großstadt Erzincan war er sich sicher: “Ich muss etwas unternehmen.”

Gute 40 Jahre später blickt Hakki Keskin, beim Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag, auf ein Leben zurück, in dem sich politisches Engagement und sozialer Aufstieg eines Migranten in Deutschland gegenseitig beflügelten. Zwei seiner Brüder sind den traditionellen Weg des anatolischen Gastarbeiters gegangen: Als Maurermeister gingen sie mit der ersten Einwanderergeneration nach Deutschland – um schon 1965 wieder zurückzugehen. “Sie haben getan, was viele der Deutschtürken lange nur von sich gedacht haben”, meint Keskin, der kürzlich ein Buch zum Thema veröffentlicht hat (“Deutsch-türkische Perspektiven”): “Sie blieben nicht lange.” Vieles, was mit der deutschen Integration schiefläuft, hat damit zu tun, dass beide Seiten, die Deutschen und die Zuwanderer, bis weit in die Siebzigerjahre hinein glaubten, man werde sich nicht groß aneinander gewöhnen müssen.

Hakki Keskin studierte Politik am Otto-Suhr-Institut in Berlin, etwa zur gleichen Zeit wie Gesine Schwan, also mitten in der Studentenbewegung. Am meisten beeindruckt hat ihn sein Professor Richard Löwenthal, ein jüdischer Politologe, der während der Nazizeit als führender KPD-Ideologe emigriert war und 1945 in die SPD eintrat. Von ihm hat Keskin viel über den Stalinismus gelernt: Dass etliche der treuesten Kommunisten den Säuberungsprozessen unter Stalin zum Opfer fielen, hat ihn nachhaltig erschrocken – allerdings nicht genug, um nicht Jahre später in die Nachfolgepartei der SED einzutreten. Zunächst aber gründete er einen Türkischen Studentenverband. Von seinen Gedanken damals – wie kann man Industrialisierung und Demokratisierung verbinden – war die türkische Regierung nicht angetan, man entzog ihm kurzerhand die Staatsbürgerschaft. Der Fall wurde zum Politikum. Günter Grass, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Erich Fried und andere unterstützten ihn; Otto Schily vertrat ihn als Anwalt.

Als frisch Promovierter (“Industrialisierung und Demokratie”) war er eigentlich genau der Remigrant, den die Türkei im Sinn gehabt hatte, als sie gegenüber den Deutschen Ende der Fünfzigerjahre darauf gedrungen hatte, auch Gastarbeiter entsenden zu dürfen. Man wollte von den Migranten nicht nur durch die Devisen profitieren, die diese in die Heimat schickten, sondern sie auch für einen Modernisierungsschub in der Türkei selbst nutzen. Und so ging Keskin 1976 nach Ankara zurück, wo er in den Planungsstab des reformorientierten Ministerpräsidenten Bülent Ecevit berufen wurde. Aber die Armee schaute sich die Entwicklung nicht sehr lange an: 1979, im Jahr der Islamischen Revolution im Nachbarland Iran, putschte das Militär, putschte die ganzen Achtzigerjahre durch, “es war eine schlimme Zeit”, mit Foltergefängnissen und politischen Morden.

Umso wohler hat Keskin sich in Deutschland gefühlt, wo er am Schlachtensee in Berlin in studentischen Milieus kein schlechtes Leben führte. Deutsche Behörden schützten ihn, als er auf der Todesliste der kurdischen Terrororganisation PKK gelandet war. 1975 ist er SPD-Mitglied geworden – und 30 Jahre lang geblieben. Eine “solidarische Atmosphäre” sei das gewesen, erinnert sich Keskin, von dieser Erfahrung ist sein Deutschlandbild ebenso geprägt wie von den ausländerfeindlichen Ausschreitungen der Neunzigerjahre. Der Bruch kam für ihn durch das Staatsbürgerschaftsrecht unter Rot-Grün und die Hartz-IV-Gesetze. Keskin stieg bei der SPD aus und bei den Linken ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte er längst mit anderen Migranten die Türkische Gemeinde Deutschlands (TGD) gegründet, deren Vorsitzender er zehn Jahre lang war.

Und hier liegt das große Rätsel des Hakki Keskin: Wie kann es sein, dass jemand, der über seine persönliche Beziehung zu Deutschland nichts als Dankbarkeit empfindet, in der Migrantenpolitik nur die üblichen Klagelaute anstimmt? “Das ist mein Dilemma”, sagt Keskin. “Deutschland ist uneingeschränkt meine Heimat, jedoch fehlen mir und Millionen anderen Menschen mit Migrationshintergrund die erforderliche Anerkennung, die mir das Gefühl vermitteln würde, wirklich willkommen zu sein.” Auch als Abgeordneter des Deutschen Bundestags? Hakki Keskin hat sein “Dilemma” nicht gelöst. Es scheint ihn aber auch nicht wirklich zu stören.

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