Redebeitrag von Prof. Dr. Hakký Keskin auf der Eröffnungskonferenz zum Europäischen Jahr gegen Rassismus am 31. Januar 1997 in Den Haag
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
In meinem schriftlichen Beitrag, der Ihnen zur Verfü-gung stehen dürfte, habe ich versucht, den alltägli-chen Rassismus in Deutschland in seinen verschie-denen Formen aufzuzeigen und an zahlreichen Bei-spielen exemplarich zu erläutern. In meinem Redebeitrag möchte ich eine Art analysie-rende Zusammenfassung und Vorschläge zu Gegen-strategien vornehmen.
Ich bin mir auch als Wissenschaftler wohl bewußt, daß der Begriff ‘Rassismus’ einer differenzierten und genauen Betrachtung bedarf. Dies kann aber hier nicht meine Aufgabe sein. Die Diskriminierung und Absonderung von Menschen wegen ihrer unter-schiedlichen Herkunft, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Kultur, Hautfarbe sowie anderer Äußerlichkeiten werde ich als Rassismus bezeichen. Der Begriff wird also in diesem Sinne von mir benutzt.
In der seriösen Wochenzeitung ‘Die Zeit’ schreibt Chefredakteur Robert Leicht unter der Überschrift ‘Aus Knechten Bürger machen – fast jeder zehnte hat in Deutschland nichts zu sagen, weil er als Ausländer gilt’: ‘So bleibt es nach wie vor bei dem Skandal, das fast ein Zehntel unserer Wohnbevölke-rung nichts zu sagen hat, daß die sieben Millionen Menschen ausländische Abstammung hierzulande … politisch ins Abseits gestellt und von niemandem ver-treten werden:Knechte nur, nicht Bürger. Zwar dürfen sie Steuern und Beiträge bezahlen – aber wählen und gewählt werden? …. Die Bundesrepublik, die mo-dernste Demokratie, der beste Verfassungsstaat der deutschen Gechichte, leistet sich unverdrossen diese Dauerdskriminierung’ (26.6.1996) ‘Deutschlands Ausländerpolitik fing an wie auf einem Sklavenmarkt.’ schreibt Christian Schneider in der Süddeutsche Zeitung. ‘Da saßen wir an einem Tisch, so wie bei einer Musterungskomission, und die defi-lierten dann also an uns vorbei. Und dann haben wir sie uns nach der Größe, nach der Stärke, nach Kör-perbau angeschaut. Manchmal haben wir uns auch die Hände zeigen lassen, ob sie auch mögklichst größe Hände und feste Schwielen an den Fingern haben. Ab und zu guckte man einem dieser Italiener in den Mund, um festzustellen, ob auch seine Zähne einigermaßen in Ordnung sind.’ (Süddeutsche Zei-tung, 23.2.1996). So die Beschreibung eines verant-wortlichen Deutschen bei der Auswahl der sogenann-ten ‘Gastarbeiter’ für die deutsche Wirtschaft. Nach solchen Kriterin wurde der allergröste Teil der heute in Deutschland oft bereits im Rentenalter lebenden Einwanderer der ersten Genaration aus den Anwer-bestaaten ins Land geholt.
Ein Großteil von ihnen lebt bereits seit mehr als zehn, zwanzig oder dreißig Jahren in Deutschland. Von den zwei Millionen Migrantenkindern- und Jugendllichen, die heute in Deutschland leben, sind rund anderthalb Millionen in Deutschland geboren. Weitere zwei Milli-onen der dort lebenden Nichtdeutschen sind als Kind nach Deutschland gekommen und im Lande auf-gewchsen und zur Schule gegangen.
Diese Art von Politik, nämlich die in Deutschhland seit Jahrzehnten lebenden, dort geborenen und auf-gewchsenen Menschen weiterhin zu Menschen zwei-ter Klasse zu degradieren, indem man ihnen einen minderen Ausländerstatus zumutet und sie rechtlich, politisch und zum Teil sozial von der deutschan Be-völkerung abzusondert, stellt für mich eine neue, eu-ropäische Art der Apartheidpolitik, eine besondere Form des Rassismus dar, wie ich dies in einem Spie-gel-Interwiev bezeichnet habe (Der Spiegel, 7.6.1993).
Deshalb hat Robert Leicht recht, wenn er mahnt und fordert, aus Knechten Bürger zu machen. Wenn also über sieben Millionen Menschen in Deutschland zum Ausländer gamacht werden, weil sie die deutsche Staasbürgerschaft nicht besitzen und dann der Er-werb der deutschen Staasbürgerschaft für sie so er-schwert wird, daß Deutschland die weltweit niedrigs-ten Einbürgerungquten aufweist, während anderer-seits deutschstämmige Zuwanderer aus den ehema-ligen Ostblockstaaten fast automatisch deutsche Staasbürger werden können, dann ist diese Methode und deren Begründung rassistisch.
Der Umgang mit den Einwanderern ist eine ganz be-wußte und gewollte staastpolitische Absonderung und Diskriminierung von Millionen von Einwohnern Deutschlands allein wegen ihrer Herkunft und Natio-nalität. Wer also in Deutschland den Rassismus be-kämpfen will, muß vor allem helfen, diese staatlich in allen Bereichen der Gesllschaft praktizierte Diskrimi-nierung zu beseitigen.
èErmutigt und vleifach bestätigt von staatlicher Dis-kriminierung erleiden die Nichtdeutschen den alltägli-chen Rassisimusin in allen Lebensbereichen, auf den Straßen, in Wohnvierteln, teilweise sogar in öffentli-chen Einrichtungenam und an ihren Arbeitsplätzen. Bei gezielten Testaktionen zur Wohnungssuche wur-de festgestellt, daß die Immigranten in 90 Prozent al-ler Fälle bereits am Telefon abgewiesen wurden. Bei der Suche nach Arbeit bevorteilt bereits das Gesetz Deutsche und die ihnen gleichgestellten EU-Bürger vor den übrigen Ausländern.
Die physische Gewaltanwendung gegen die nicht-deutsche Bevölkerung mit rassitischem Hintergrung, insbesondere seit der Wiedervereinigug Deutsch-lands, hat beängstigende Formen und Dimensionen erreicht, selbst wenn in den letzten beiden Jahren ein Rückgang bei den agrassivsten Formen zu beobach-ten ist. In den Jahren 1991-1995 hat es laut Angaben des Bundeskriminalamtes 24.457 Straftaten mit fremden-feindlichem und antisemitischem Hintergrund gege-ben. Im gleichen Zetraum wurden 49 erfolgte oder versuchte Tötüngsdelikte,1858 Köperverletzungen, 1483 Brand- und Sprengstoffanschäge und viele Tausend weitere rassitische Delikte gegen die Immig-ranten und ihrer Kinder verübt (Verfassungschutzbe-reichte 1991 bis 1996).
Bei der Gegenwehr gegen den Rassismus erachte ich folgende Maßnahmen für überfällig:
1. Beseitigung der institutionalisierten Diskrimi-nierung durch eine erleichterte Einbürgerungs-politik, ohne den Zwang des Verlusts der bishe-rigen Staatsbürgerschaft. Das bis heute gültige Staatsbürgerschaftsrecht von 1913 muß endlich modernisiert und modernen Erfor-dernissen angepaßt werden:- den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft durch Geburt in Deutschland für alle automatisch ermöglichen, – den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft für die hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen nach einer bestimmten rechtmäßigen Aufenthaltsdauer als einen Rechtsanspruch vorsehen (in Schwe-den reichen dafür 3, in Frankreich 5 Jahre aus, auch für Deutschland müßten 5 bis 8 Jahre ge-nügen), – beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit sollten alle, die aus den unterschiedlichsten, für sie jedoch plausiblen Gründen, ihre alte Staats-bürgerschaft – wenn auch in passiver Form – bei-behalten wollen, dieses Recht haben. ‘Von den 26 Europaratsstaaten halten außer der Bundesrepublik Deutschland nur Österreich und Luxemburg’ so Verfassungsrechtler Hailbronner an der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörig-keit fest.
2. Eine interkulturelle Erziehung als Konzept ge-gen Rassismus und Antisemitismus müßte als Gesamtkonzept gegen Rassismus und Antisemi-tismus im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich als neue Erziehungs- und Bildungspolitik akzeptiert und eingesetzt werden. Interkulturell bedeutet dabei:- voneinander lernen, Dialog, Austausch, Entgren-zung, Gegenseitigkeit, Erziehung zur Solidarität; – Anerkennung der Lebensweisen, der Verschie-denheit des Verhaltens und der kulturellen Wer-te, ihrer Bedeutsamkeit und ihrer Funktionswei-sen. Die interkulturelle Erziehung und Bildung sollte als Chance verstanden werden, in der angestrebten Erziehungs- und Bildungspolitik folgende Ziele zu ermöglichen:- Verständigung zwischen den Menschen aus un-terschiedlichen Kulturen. – Offenheit und Toleranz gegenüber dem ‘Anders-Seienden’. – Abbau von Vorurteilen um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zu ermöglichen. 3. Verabschiedung eines Antidiskriminierungsge-setzes, welches auch das Verbot rassistisch-antisemitischer Organisationen und Publikatio-nen beinhalten müßte. Ein solches Gesetz sollte folgendes beinhal-ten:- ‘Positive Aktionen’: dieses umfaßt die Maßnah-men, die benachteiligte kulturelle Minderheiten in bestimmten öffentlichen und privaten Bereichen so-lange bevorzugt zu fördern, bis eine Chancen-gleichheit mit den übrigen gesellschaftlichen Grup-pen hergestellt ist.