Pressekonferenz in Berlin

Deutschland hat ein Problem, das Türkenproblem. Es wird behauptet, die Türken wollten sich, ja können sich offenbar auch nicht in die deutsche Gesellschaft integrieren. Erneut und zwar in einer ganz massiven Art und Weise wurde dies den Deutschlandtürken von zahlreichen Politikerinnen und Politikern vor allem über die Medien unüberhörbar klar gemacht.

Führende Politikerinnen von CDU und CSU wollen ihre altbekannten Thesen infolge der Ereignisse in Holland bestätigt se-hen. Die multikulturelle Gesellschaft sei gescheitert, in Deutschland existieren Parallelgesellschaften, die eine akute Gefahr darstellen. Türken sprechen kaum Deutsch, Türkische Frauen und Mädchen werden massiv unterdrückt. Es finden Zwangsheiraten statt. Deutsche Leitkultur, Vereidigung auf die Verfas-sung, Erlernen der deutschen Sprache und Predigten in den Moscheen in deutscher Sprache werden als Lösung angekün-digt.

Meine Damen und Herren, offensichtlich brauchen manche Politikerinnen und Politiker in bestimmten Situationen Sündenböcke oder gar Feindbilder. Diese seit drei Wochen andauernde Ballung größtenteils unfai-rer, weil einseitiger und unsachlicher Diskussionen und Stellungnahmen, hat bei den Deutschlandtürken tiefe Wunden ge-schlagen.

Ein seit über 40 Jahren in Deutschland lebender, angesehener, mit einer deutscher Frau verheirateter Akademiker brachte die-se tiefe Betroffenheit in einem Satz so zum Ausdruck: ‘Zum ersten Mal habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen. Wir können uns nicht’, sagte er, ‘permanent rechtfertigen, diese Kraft habe ich nicht mehr.’ Glauben Sie mir, dieser Schrei gibt die allgemeine Stimmung unter den Deutschlandtürken sehr genau wider.

Bis zum heutigen Tage ist von keiner türkischen Organisation, nicht einmal von denen, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als fundamentalistisch-islamische Organisationen einge-stuft sind und unter dessen Beobachtung stehen, Terror oder Gewalt gegen die deutsche Bevölkerung oder gegen deutsche Einrichtungen ausgegangen.

Im Gegenteil: Am 21. November 2004 fand in Köln eine vom größten islamischen Verband der Deutschlandtürken, DITIP, ini-tiierte und von der Türkischen Gemeinde und einigen anderen türkischen Organisationen unterstützte Demonstration mit mehr als 25.000 Menschen – zumeist Türken – gegen Gewalt und Terror und für ein friedliches Zusammenleben statt.

Was also ist der Grund dieser Kampagne gegen die Türken? Unweigerlich denkt man darüber nach, ob mit dieser Kampagne die Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen zur Mitgliedschaft der Türkei in der EU beim bevorstehenden Gip-feltreffen ihrer Staats- und Regierungschefs negativ beeinflusst werden soll, zumindest aber Bedingungen geschaffen werden sollen, die für die Türkei kaum hinnehmbar sind.

Wir als TGD würden es sehr begrüßen, ernsthaft über eine bessere Integrationspolitik und die hierfür erforderlichen Maß-nahmen, über multikulturelle Gesellschaft, Parallelgesellschaften, Probleme im Bildungsbereich und in den Ballungsgebieten zu diskutieren, mit dem Ziel, aus den Versäumnissen und Feh-lern der letzten 50 Jahre zu lernen.

Ohne die Beteiligung und Mitwirkung der eigentlichen Zielgrup-pe kann allerdings keine vernünftige Diskussion geführt wer-den. Vielmehr wird eine solche Diskussion die Ängste und Vor-urteile gegen die Deutschlandtürken eher schüren statt sie ab-zubauen.

Doch die Diskussion über die Türken findet in den namhaften Talkshows und Fernsehsendungen zumeist ohne deren Beteiligung statt, wie auch die Gestaltung der bisherigen Politik. Dies können wir nicht akzeptieren.

Meine Damen und Herren, ich möchte nun in aller gebotenen Kürze zu den aktuell disku-tierten Themen Stellung beziehen. Wir arbeiten ohne Wenn und Aber für eine gleichberechtigte Integration der Deutschlandtürken in die deutsche Gesellschaft. Bereits im Mai 1981 haben wir als eine Gruppe von mehr als 30 sachkundigen Personen unsere konkreten Verschläge nach einjähriger Arbeit hier in Berlin der Öffentlichkeit vorgelegt. Seitdem haben wir vor allem für die Bereiche Bildung und Ausbildung, Kultur und Religion, kommunales Wahlrecht und er-leichterte Einbürgerung, Wohnverhältnisse oder Antidiskriminie-rung immer wieder konkrete Konzepte entwickelt und der Politik und der Öffentlichkeit vorgetragen.

Integration: Integration setzt zuallererst die gleichberechtigte Aufnahme in die deutsche Gesellschaft voraus. Die Menschen müssen sich als fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft begreifen und fühlen. Sie müssen ihre Gleichbehandlung erleben. Sie müssen zu der Überzeugung gelangen, Deutschland sei ihre neue Heimat. Nur so können sich die kulturellen Minderheiten mit Deutschland voll identifizieren.

Fakt ist jedoch, dass diese Menschen immer noch als Ausländer und ohne die deutsche Staatsbürgerschaft mit minderen Rechten hier leben. Seit 20, 30, 40 und mehr Jahren. Ja sogar, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind.

Eine voll gelungene Integration ist nur unter rechtlich, politisch und sozial gleichgestellten Menschen und Bevölkerungsgrup-pen möglich. Die Probleme und Defizite basieren vor allem auf dieser Ungleichheit und Ungleichbehandlung der Migranten, die zu Dauerausländern degradiert worden sind.

Multikulturelle Gesellschaft: Altbundeskanzler Helmut Schmidt, Frau Merkel und vielen an-deren aus CDU und CSU möchte ich vehement widersprechen, wenn sie das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft herbei-reden oder ihr gar die Existenz absprechen. Kulturelle Vielfalt ist längst eine unumkehrbare Realität auch in Deutschland. Die-jenigen, die dies leugnen, verneinen die Tatsache, dass Deutschland spätestens seit rund 50 Jahren ein Einwande-rungsland ist. Genau dieses Leugnen einer längst vollzogenen Realität hat auch dazu geführt, dass die Integration in manchen Bereichen der Gesellschaft immer noch Lücken aufweist.

Altbundeskanzler Schmidts Behauptung, das Modell der multi-kulturellen Gesellschaft sei mit einer Demokratie schwer zu vereinbaren, widerspricht der Praxis in den USA, in Frankreich, in Großbritannien, in Schweden, in der Schweiz, in den Niederlanden (trotz der jüngsten Geschehnisse!), in Deutschland, in der Türkei und in vielen anderen Ländern. Die meisten dieser Länder sind heute multikulturelle und das heißt aus vielen Ethnien, Religionen, Sprachen und Kulturen bestehende Gesellschaften.

In all diesen Ländern gibt es jedoch auch Schwierigkeiten beim Zusammenleben in dieser kulturellen Vielfalt. Nicht durch das Verleugnen dieser Tatsache können Probleme gelöst werden, sondern durch zukunftsgerichtete und vernünftige politische Konzepte. Vor allem aber durch die Gewährung von Bürger-rechten, durch Gleichbehandlung, durch Partizipation, Mitwirkung und Mitgestaltung der kulturellen Minderheiten und auf keinen Fall durch deren Ignorierung oder Diskriminierung.

Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat in seiner Regierungszeit die auch heute noch gültigen und für die Integration unumgänglichen Vorschläge seines Ausländerbeauftragten, des Ministerpräsidenten a.D. Heinz Kühn, weitestgehend ignoriert. Wären diese Vorschläge Kühns, die in dem weitsichtigen ‘Memoran-dum zur Integrationspolitik’ im September 1979 erschienen, realisiert worden, wären wir heute ganz entscheidend weiter.

Parallelgesellschaften: Die Unterstellung der Bildung von Parallelgesellschaften bedeu-tet, dass eine kulturelle Minderheit völlig losgelost von der deut-schen Gesellschaft abgekapselt in einer Stadt oder einem Stadtteil lebt. Wo haben wir das in Deutschland? In Kreuzberg, in Wedding, in Hamburg Wilhelmsburg. Doch selbst in diesen Stadtteilen bilden die Türken nicht die Bevölkerungsmehrheit. Sie leben dort mit Deutschen und mit anderen Minderheiten zusammen. In den Läden der Türken kaufen zumeist Deutsche, in den Restaurants essen auch zumeist die Deutschen. Die augenblickliche Hysterie und Angstmacherei verstehe ich nicht.

Probleme in der Schule: Manche akuten Schwierigkeiten sind jedoch hausgemacht und von den Behörden zu verantworten. Niemandem, weder Eltern noch Schüler/innen darf erlaubt sein, die Gesetze in Deutsch-land – und dazu gehören auch die Schulgesetze! – zu missachten. Schulpflicht gilt für alle: für Mädchen und Jungen, für Sport-, Schwimm- und Sexualkundeunterricht. Der Staat und die Schu-len dürfen sich auf eine Diskussion über die geltende Rechtslage nicht einlassen. Es darf keine Freiräume für eine Auslegung durch die jeweilige Religion geben. Religionen und religiöse Ü-berzeugungen einzelner Personen und Gruppen müssen Privat-sache bleiben und dürfen nicht auf staatspolitische, rechtliche und bildungspolitische Einrichtungen übertragen werden. Vereine, die sich als Religionsgemeinschaft ausgeben, dürfen unter keinen Umständen eigene Kindertagesstätten und Schulen eröffnen und unterhalten. Diese Fehler werden in den Nieder-landen gemacht. Auch in Berlin erteilt eine selbsternannte Reli-gionsgemeinschaft inzwischen islamischen Religionsunterricht in den Schulen und führt sogar eine eigene Schule. Bevor es zu spät ist, müssen diese Fehler korrigiert werden. Die staatlichen Schulen müssen aber mit der Einführung einer ‘islamischen Religionsunterweisung’ dem Bedürfnis muslimi-scher Eltern entsprechen und dem politischen Islam den Boden für eine politische Agitation und dessen dogmatische Auslegung entziehen. Dies fordern wir seit mehr als 20 Jahren. Der Islam ist eine tolerante, friedliche und flexible Religion. Er verlangt von den Gläubigen, sich an die Rechtsordnung und an die Gesetze des jeweiligen Landes zu halten, in dem man lebt. Der politische Islam will aber die Religion instrumentalisieren, schafft daraus eine politische Ideologie und bildet daraus Dog-men. Genau das will der Laizismus in Frankreich und in der Tür-kei verhindern. Deshalb sollte Deutschland beim Umgang mit Muslimen von den Erfahrungen dieser Länder profitieren.

Deutsche Leitkultur: Diejenigen, die diesen Begriff predigen, haben die Assimilation der hier lebenden kulturellen Minderheiten im Auge. Dies ver-stößt gegen alle auch von Deutschland unterzeichneten interna-tionalen Verträge und Vereinbarungen. Mit dieser Polemik soll man aufhören. Die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft ist aber im neuen Zuwanderungsgesetz mit einem Bekenntnis zur verfassungsmäßigen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grund-ordnung Deutschlands verbunden. Dies ist auch unsere Position.

Zwangsheiraten: Manche Eltern in der Türkei und auch unter den Türken in Deutschland geben ihren Töchtern und Söhnen Ratschläge oder auch Empfehlungen für die Wahl ihrer Partnerinnen und Partner. Dies ist in der türkischen Kultur üblich. Doch sehr viele Söhne und Tochter halten sich nicht an diese Vorschläge und heiraten die Person, die sie lieben. In sehr seltenen Fällen kann es vor-kommen, dass Eltern auf ihrem Vorschlag bestehen und vor allem auf ihre Töchter in gewisser Weise Zwang ausüben. Dies kommt aber nach unserer Beobachtung bei höchstens einem Prozent der Eltern vor. Deshalb darf dieses nicht verallgemeinert werden. Noch einmal möchte ich unterstreichen: Wir wollen helfen, die deutsche Diskussions- und Entscheidungskultur zu bereichern. Die Integration wird im gewollten Umfang nicht gelingen, solan-ge die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung mit vollen Bürgerrechten nicht gewährleistet ist. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen und Entscheidungen können ohne Beteiligung, Mitwirkung und Mitgestaltung der Migrantenbevölkerung zu kei-nem Erfolg führen. Deutschland und die deutsche Politik dürfen diese Tatsache nicht länger ignorieren.